Kleiderwahl bei Kindern: Ein Balanceakt zwischen elterlicher Fürsorge und kindlicher Autonomie

Veröffentlichung: 09. September 2024

 

Die Auswahl der richtigen Kleidung für Kinder kann besonders in den kälteren Jahreszeiten eine tägliche Herausforderung für Eltern sein. Es ist früh am Morgen, das Thermometer zeigt nur wenige Grad über Null, und Ihr Kind möchte in dünnen Leggings und einem T-Shirt das Haus verlassen. Als Elternteil verspüren Sie sofort den Drang, einzugreifen, die warme Winterjacke hervorzuholen und Ihrem Kind klarzumachen, dass es sich falsch entschieden hat. Doch wie geht man in einer solchen Situation aus einer beziehungsorientierten Perspektive vor, ohne die Autonomie des Kindes zu untergraben, aber dennoch die notwendige Fürsorge auszuüben?

 

Die Bedeutung der Autonomie in der kindlichen Entwicklung

Kinder durchlaufen in ihrer Entwicklung verschiedene Phasen der Autonomie, in denen sie beginnen, eigene Entscheidungen zu treffen und ihre Selbstständigkeit zu erproben. Die Auswahl von Kleidung ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses. Für Kinder ist es oft weniger relevant, ob die Kleidung funktional oder wettergerecht ist. Vielmehr geht es ihnen darum, ihre Selbstwirksamkeit zu erleben und ihren individuellen Stil zu zeigen. Das Gefühl, etwas alleine entscheiden zu dürfen, stärkt ihr Selbstbewusstsein und fördert die Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten.

 

Eltern als Leitplanken: Der Grat zwischen Autonomie und Fürsorgepflicht

Hier beginnt die Herausforderung für Eltern: Einerseits möchten Sie Ihrem Kind den Raum geben, eigene Entscheidungen zu treffen, andererseits liegt es in Ihrer Verantwortung, das Wohl des Kindes zu sichern. Beziehungsorientierte Elternschaft betont, dass es darauf ankommt, das Kind in seiner Autonomie zu unterstützen, dabei jedoch als sicherer Hafen und beratende Instanz zur Seite zu stehen.

Es ist wichtig, zwischen den Vorstellungen des Kindes und den tatsächlichen Erfordernissen zu vermitteln. Ein grundlegendes Prinzip dabei ist, die Kleiderwahl nicht in einem Machtkampf, sondern im Dialog zu lösen. Das bedeutet, dass die Einschätzung der Eltern nicht automatisch über der des Kindes stehen sollte, sondern als Teil eines Entscheidungsprozesses verstanden werden kann.

 

Kommunikation als Schlüssel: Einfühlsam und auf Augenhöhe

Anstatt direkt zu bestimmen, was das Kind tragen soll, bietet es sich an, das Kind in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Dies kann geschehen, indem Sie Ihrem Kind die Wetterlage erklären und die Konsequenzen verschiedener Kleidungsoptionen aufzeigen. Beispielsweise können Sie sagen: „Heute ist es sehr kalt draußen. Wenn du nur dein T-Shirt trägst, könntest du schnell frieren. Was denkst du, was wir tun könnten, damit dir nicht kalt wird?“

Diese Art der Kommunikation fördert das Verständnis des Kindes für die Notwendigkeit angemessener Kleidung und ermutigt es gleichzeitig, eigene Lösungen zu finden. Vielleicht entscheidet es sich für eine Kombination aus T-Shirt und warmer Jacke oder für das Tragen eines zusätzlichen Pullovers. Der entscheidende Punkt ist, dass das Kind in den Prozess involviert wird und nicht das Gefühl hat, übergangen zu werden.

 

Grenzen setzen: Wann Fürsorgepflicht beginnt

Auch wenn es wichtig ist, die Autonomie des Kindes zu respektieren, gibt es klare Grenzen, bei denen die elterliche Fürsorgepflicht greift. Diese beginnt dort, wo die Gesundheit des Kindes gefährdet ist. Wenn das Kind bei Temperaturen um den Gefrierpunkt vehement darauf besteht, ohne Jacke das Haus zu verlassen, ist es Aufgabe der Eltern, zum Schutz des Kindes einzugreifen.

In solchen Situationen kann es hilfreich sein, den Widerstand des Kindes empathisch zu spiegeln: „Ich sehe, dass du wirklich keine Lust hast, die dicke Jacke anzuziehen. Aber es ist meine Aufgabe, darauf zu achten, dass du gesund bleibst. Deshalb ist es wichtig, dass du heute eine wärmere Jacke trägst.“ Indem Sie Ihre Entscheidung erklären und gleichzeitig das Bedürfnis des Kindes nach Mitbestimmung anerkennen, zeigen Sie ihm, dass Sie es ernst nehmen, ohne Ihre Verantwortung aus den Augen zu verlieren.

Doch der empathische Dialog bedeutet nicht, dass das Kind dann mit Ihrem Vorschlag zwingend einverstanden sein wird. Auch wenn Sie sich auf Augenhöhe unterhalten und empathisch nach einer Lösung suchen, kann die Antwort des Kindes ein klares Nein bleiben. Dann sind aus meiner Sicht die Antworten folgender Fragen relevant:

 

  • Bleibt das Kind in der Nähe und hat somit jederzeit die Möglichkeit, zurückzukehren und sich wärmere Kleidung anzuziehen, wenn ihm kalt wird? Dann wäre es denkbar, dass das Kind entscheidet, wie es raus geht und damit spürt, ob seine Einschätzung passend war oder nicht.
  • Ist das Kind bereit, wärmere Kleidung mitzunehmen, damit es sich bei Bedarf wärmer anziehen könnte? Dann wäre eine Möglichkeit, einen Rucksack mit entsprechender Kleidung zu packen und mitzugeben.

 

Ist beides nicht möglich bzw. das Kind nicht bereit dazu und aus Fürsorgeüberlegungen ist es aus Ihrer Sicht tatsächlich nicht zumutbar, in der gewünschten Kleidung die Wohnung zu verlassen, dann kann es durchaus möglich sein, dass Sie sich dafür entscheiden, aus Fürsorgeüberlegungen, nicht nach draussen zu gehen. Wichtig dabei ist mir: Entscheiden Sie sich ehrlich nur für diesen Weg aus Fürsorge heraus, nicht aus Sicht Bestrafung, weil Ihr Kind nicht das gemacht hat, was Sie sich wünschen. Denn das Kind spürt den Unterschied. Es wird Ihnen sein Frust deutlich zeigen, gleichzeitig wird es spüren, dass Sie es nicht bestrafen, sondern schützen möchten.

 

3 praktische Tipps für den Alltag

  1. Wettervorhersage gemeinsam ansehen: Machen Sie es zu einem Ritual, morgens gemeinsam die Wettervorhersage anzusehen. Dies gibt dem Kind die Möglichkeit, die Entscheidung über die Kleidung bewusst zu treffen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Kleidung zu welchem Wetter passt.
  2. Kleidungsvorwahl anbieten: Stellen Sie zwei oder drei geeignete Kleidungsoptionen zur Auswahl. So bleibt die Entscheidung beim Kind, aber Sie haben die Sicherheit, dass die Auswahl wettergerecht ist.
  3. Erfahrungen zulassen: Wenn es das Risiko zulässt, lassen Sie das Kind seine eigenen Erfahrungen machen. Wenn Ihr Kind einmal friert, wird es beim nächsten Mal eher bereit sein, wärmere Kleidung zu akzeptieren. Achten Sie hierbei nur darauf, dass es entweder die Möglichkeit hat, sich wärmer anzuziehen oder dass es sich einfach nach drinnen begeben und sich wieder aufwärmen kann. So fördern Sie die persönliche Eigenverantwortung Ihres Kindes und auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Autonomie

 

Fazit: Ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Verantwortung

Die Kleiderwahl in den kälteren Jahreszeiten bietet Eltern eine wertvolle Gelegenheit, die Balance zwischen kindlicher Autonomie und elterlicher Fürsorge zu üben. Indem Sie Ihr Kind in die Entscheidungsfindung einbeziehen, kommunizieren und auf Augenhöhe bleiben, schaffen Sie eine Umgebung, in der das Kind lernt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, während Sie als Elternteil die notwendige Fürsorge bieten. Ihre Einschätzung als Elternteil zählt, aber sie sollte nicht dominieren, sondern als Teil eines unterstützenden Dialogs verstanden werden, der das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellt.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die kältere Jahreszeit und stehe für weitere Beratungen sehr gern zur Verfügung.

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